Ein Selbstportrait muss nicht durch Aufbietung von möglichst viel artifizieller Leistung zu den Sternen
greifen - wo es doch in erster Linie darum geht, mit Empfindung und Engagement Farbe zu bekennen:
Der russlanddeutsche Pianist Ilja Weigel verkörpert dieses Prinzip auf seiner Debut-CD, wo er auch
eigene familiäre Wurzeln offen legt.
Gemäß der russischer Musiziertugend hat er zunächst sein Instrument ohne Wenn und Aber unbestechlich
zu spielen und zu beherrschen gelernt, kein Wunder, wenn man wie er aus einer echten Musikerfamilie
stammt, wo das Musizieren wie die Luft zum Atmen dazu gehört. Wenn er sein aktuelles Album „Generations
of Migration“ nennt, so zeugt dies von echtem Migrantentum, wenn dieser Pianist mit viel Aufgewecktheit
zu neuen kulturellen und musikalischen Ufern aufbricht. In diesem Fall auch zum Jazz, wo er in der
Ausdruckswelt eines Brad Mehldau oder Bill Evans heimisch geworden ist. Und zu noch viel mehr Dingen,
die er liebt, bekennt sich Ilja Weigel: „Saint Petersburg“, oder „Northern Lights“ sind tief persönliche
Stücke, die biografische Stationen und Sehnsuchtsorte musikalisch einfangen. Für solche Stimmungsbilder
trägt Ilja Weigel breite imaginäre Pinselstriche aus der pianistischen Klangfarbenpalette auf, leitet
weitgespannte Jazzimprovisationen, formuliert erzählerische Melodienbögen und entführt die Hörer auch
gerne mal in harmonische Labyrinthe.
Weigels Anschlagskultur ist exquisit: Herrlich, wie er dynamisch zwischen linker und rechter Hand
differenziert, wie er Akzente und Betonungen setzt, dass die Musik deutlich artikuliert „spricht“
und auch in bestem Sinne „balladesk“ fließt und schwelgt. Das ist durchaus über weite Strecken eine
musikalische Wohlfühloase - aber eine, die tief empfunden und authentisch und nie eitel aufpoliert
daherkommt!
Aber es kommt noch eine andere Welt ins Spiel: Nämlich jene der musikalische Heimat von Ilja Weigel und
seiner Familie. Mit viel Lust rückt Ilja Weigel der Volksmusik des Ostens zu Leibe. Um Walzer und Polka
geht es, auch wird es mal orientalisch. Allein mit sich ist der Pianist übrigens jetzt schon lange nicht
mehr: Denn auf mehreren Stücken begleitet ihn sein Vater auf dem Bojan, einer Art Akkordeon. Diesen
Klang, der sich hier spritzig-lebendig mit dem Klavier verbindet, hatte Ilja Weigel vermutlich von
kleinauf im Ohr.
Stefan Pieper [11.05.2019]